Vor einigen Wochen begann das Semester an der Universität Gent, an der ich Gastprofessorin bin und eine Vorlesung über Menschen, ihre Arbeitsmotivation und ihre Zusammenarbeit in Organisationen halte. Obwohl ich durch meine Beratung, meine Rolle bei Himmelreich Architektur, meine Aufgaben im Herausgeberteam des JPP, sowie eigene Forschungsprojekte schon sehr volle Arbeitswochen habe, ist es für mich so wichtig, weiterhin eigene Lehre zu betreiben, dass ich mich dafür gern während des Semesters in die Mehrarbeit stürze.
Das Verhältnis zwischen Praxisorientierung und Wissenschaftlichkeit
Die Ausbildung an den Universitäten geht viel zu oft an den Bedürfnissen der Unternehmen vorbei. Studierende lernen viel Theorie und noch mehr Modelle, aber was diese für die Praxis bedeuten und wie sie dann tatsächlich nutzbar gemacht werden können, kann oft nicht mehr vermittelt werden. Hinzu kommt die Komplikation, dass „in der echten Welt“ eben nicht alles so sauber und einfach ist und isoliert betrachtet werden kann, wie in der Theorie. Man muss in der Praxis wissen, welche Kompromisse man eingehen möchte/muss und von welchen man tunlichst die Finger lassen sollte.
Evidence-based I–O Psychology
Gleichzeitig gibt es so viele fundierte, geprüfte Erkenntnisse aus der Wissenschaft, die nicht in die Praxis transportiert und übersetzt werden. Der Ruf nach einem evidenzbasierten* Vorgehen bei praktischen Fragestellungen ist zwar laut unter uns Wissenschaftler·innen — aber weil Wissenschaftler·innen nicht an ihrem Beitrag zur Praxis gemessen werden, halten wir uns dann schlussendlich doch aus den von uns selbst geforderten Debatten heraus, überlassen nicht-qualifizierten Laien das Feld und lassen damit zu, dass zweifelhafte Entscheidungen getroffen werden und ungeeignete Methoden zum Einsatz kommen, die wirtschaftlichen Erfolg und menschliches Wohlergehen untergraben.
Warum Lehre?
Ich erinnere mich an meine eigene Studienzeit; wie ich jedes Mal die Vorträge von Praktiker·innen aufgesogen habe, und wie viel klarer mir mit jeder dieser Begegnungen die Bedeutung dessen wurde, was uns in den Vorlesungen und Seminaren vermittelt wird. Ich hatte damals zusätzlich das große Glück, einen wirklich sehr guten Dozenten in der Organisationspsychologie hören zu dürfen. Seitdem sind einige Jahre vergangen, in denen ich sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Praktikerin tätig war. Meine Einsichten möchte ich gern weitergeben, damit es anderen hoffentlich genauso geht, wie mir damals. Organisationspsychologie ist soviel mehr als nur trockene Theorie und Zahlenschubserei: Unternehmen sind nicht abstrakte, statische Gebilde, und Mitarbeiter·innen sind Menschen mit eigenen Gedanken, Bedürfnissen, und Eigenarten. Wissenschaft und Praxis können viel voneinander lernen. Ich sehe mich als Vermittlerin zwischen beiden Welten.
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*evidenzbasiertes Vorgehen: Entscheidungen und Vorgehensweisen orientieren sich an Erkenntnissen aus der Forschung (vgl. Briner & Rousseau, 2011 und die nachfolgende Debatte, z. B. hier). Die Schwierigkeit dabei ist, dass Forschung stets neue Erkenntnisse liefert, die Handlungsempfehlungen müssen demnach regelmäßig angepasst oder verfeinert werden.